Psychiater zur Weltlage: Menschen sind überfordert und besorgt
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Dem Psychiater Marc Ziegenbein zufolge hinterlässt die krisenhafte und unsichere Weltlage zunehmend Spuren bei den Menschen. “Die Kriege in Nahost und der Ukraine, Klimawandel, Inflation, Corona-Nachwirkungen, dieser gefühlte Verlust von Verlässlichkeit und Konstanz im Leben macht den Menschen zu schaffen”, sagte der Ärztliche Direktor des Wahrendorff Klinikums in Ilten bei Hannover dem Evangelischen Pressedienst.
Dies spiegele sich sowohl in steigenden Anfragen als auch in den Aufnahmegesprächen. Insbesondere bei jungen Erwachsenen nehme der Beratungsbedarf zu. Ziegenbein zufolge trifft das Gefühl von Verunsicherung und Überforderung sowohl diejenigen, die bereits seelisch erkrankt sind als auch Menschen, die bisher psychisch stabil waren. Menschen mit Psychosen treffe es besonders hart, “weil sie die zusätzlichen Sorgen und Ängste in ihre Wahnwelten einbauen”.
Typische Symptome von Stress und hoher emotionaler Belastung seien Schlaf- und Konzentrationsstörungen, Kopfschmerzen, Verspannungen, Müdigkeit und Antriebslosigkeit. Menschen in dieser Situation seien schnell überfordert – auch von ganz alltäglichen Dingen. “Sie verlieren ihre Fröhlichkeit und haben das Gefühl, sie müssten ein zu schweres Paket schultern.”
Wichtig sei es, sich bei länger andauernder Überforderung und Niedergeschlagenheit Hilfe zu holen. Diese müsse nicht zwangsläufig professioneller Natur sein. Oft helfe es schon, sich mit Freunden und der Familie auszusprechen. “Zu merken, dass man nicht allein ist, macht oft schon eine Menge aus», sagte der Professor.
Helfen könnten gerade während der kurzen Tage in den Monaten November und Dezember ausgedehnte Spaziergänge und Bewegung an der frischen Luft. “Am besten mit anderen zusammen.” Selbst wenn es draußen trüb sei und sich die Sonne nicht blicken lasse, so biete doch auch der bedeckte Himmel genügend Licht, um Winterblues und depressiver Verstimmung vorzubeugen.
Wichtig sei es zudem, digitale Medien bewusst zu nutzen und das Handy auch mal aus der Hand zu legen. “Das schützt zum einen vor zu vielen Bildern und Informationen, die vielleicht ängstigen und ermöglicht zum anderen echte Begegnungen und Wahrnehmungen”, sagte Ziegenbein.
Gerade die Natur biete viele Möglichkeiten, sich zu erden. “Die Menschen eilen viel zu schnell durch die Welt”, sagte Ziegenbein. “Die kalte Herbstluft tief einatmen, Bäume und Vögel aufmerksam beobachten, sich Zeit nehmen – all das schärft den inneren Sensor und tut gut.”
Eine weitere Möglichkeit, die eigene Resilienz zu stärken, sei es, aktiv zu werden, etwa anderen ehrenamtlich zu helfen. Wer sich gesellschaftlich engagiere, trete aus der Rolle des hilflosen, ohnmächtigen Beobachters heraus und erlebe sich als wirksam. “Das Gefühl, etwas verändern zu können, die Fäden wieder selbst in der Hand zu haben, hilft enorm.”
Von Julia Pennigsdorf (epd) // Weiterverbreitung und Weitergabe nur in Abstimmung mit dem Evangelischen Pressedienst